Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod
„Ich würde gerne aufwachen und mich vom Bild Europas befreien“, heißt es im Epilog zu Lars von Triers Film „Europa“, einem der Bezugspunkte in Ivana Sajkos neuen Roman. Die Autorin und Dramaturgin, deren Arbeiten so konsequent wie kompromisslos das Verhältnis von Politik, Ästhetik und Widerstand ausloten, versteht es auch in diesem Buch, eine private Tragödie kurzzuschließen mit dem größeren europäischen Zusammenhang.
„Alle sind weggegangen, weil sie es mussten, (…), und diese Aufbrüche waren keine spektakulären Ereignisse, sondern stille Gesten des Einsteigens in einen Zug“ und des Ankommens an Orten, an denen nur „sehr langsam das verstörte Aussehen eines verlorenen Menschen verblassen würde, das den Fremden unfehlbar verrät, man muss einmal fortgegangen sein, um all das zu begreifen (…)“
Der Roman beginnt an einem Endpunkt. Nach Jahren der Depression und der unausweichlich folgenden Trennung von seiner Frau sitzt der Ich- Erzähler, ein Journalist und Schriftsteller, im Zug „von Punkt A zu Punkt B“, von einem kroatischen Dorf nach Berlin. Auf „Sitzplatz zweiunddreißig“ zieht er Bilanz und tut das in einem furiosen Monolog, der einem Akt der Selbstrettung gleichkommt. In immer neuen Anläufen setzt er sein Leben zusammen aus Fragmenten von Erinnerung: an den gewalttätigen Vater, an den Bruder und das gemeinsame Kinderspiel „Deutsche und Partisanen“, an die Mutter, die den Vater verlässt und schließlich auch ihre Kinder, um als Arbeitsmigrantin fortzugehen und an jenem Bild des sauberen Deutschlands zu putzen, das sie dann einmal im Jahr mit nach Hause bringt. An das Aufwachsen im Dorf bei der durch den Ehemann traumatisierten Großmutter und an das Unglück, als Sohn geboren zu sein, in dem sich das patriarchale Erbe verkörpert. An erste Lektüren, in denen sich dem Ich-Erzähler die Fähigkeit der Literatur erschließt, parallele Welten zu schaffen. Und schließlich an seine Ambition, durch Petitionen und Vorträge an der „europäischen Humanität“ mitzuarbeiten, bis ihm der Glaube daran zunehmend abhanden kommt und zur endgültigen Desillusioniertheit wird angesichts der Bilder von syrischen Geflüchteten, die, in Zügen bei Tovarnik an der serbisch-kroatischen Grenze eingeschlossen, „SOS AIR“ an die Fensterscheiben schreiben.
Verlust ist das große Thema des Romans, ein Verlust, der sich in der Unmittelbarkeit des Sprechens fortwährend aktualisiert. Auf wenige Stunden Bahnfahrt verdichtet, gebündelt im Jetzt des Erzählens, wird zur Darstellung gebracht, was an stummer Geschichte im Ich-Erzähler eingelagert war. Dass sich dabei in der – stilistisch wie dramaturgisch genial orchestrierten – Verschränkung persönlicher und kollektiver Erfahrung die Perspektive im Blick auf europäische Wirklichkeiten verrückt, gehört zu den Leistungen eines Romans, an dem die Gewalt der Verhältnisse mitschreibt.
Mit "Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod" versteht es die Autorin und Dramaturgin, deren Arbeiten so konsequent wie kompromisslos das Verhältnis von Politik, Ästhetik und Widerstand ausloten, auch in diesem Buch, eine private Tragödie kurzzuschließen mit dem größeren europäischen Zusammenhang.
Ivana Sajko, 1975 in Zagreb/Kroatien geboren, ist Schriftstellerin, Theaterregisseurin und Performerin. Sie arbeitet in den sich überschneidenden Bereichen Literatur, darstellende Kunst und Musik. Themen ihrer Texte sind oftmals weibliche Perspektiven sowie die Auseinandersetzung mit der jüngsten osteuropäischen Geschichte. Zu ihren Büchern in deutscher Übersetzung gehören neben Theatertexten die Romane "Rio bar", "Liebesroman", "Familienroman", und der große Essay "Auf dem Weg zum Wahnsinn (und zum Revolution)". "Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod" ist in der Übersetzung von Alida Bremer bei Voland & Quist erschienen.